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881-42-104

Ernst Karl Winter an Pius XI, 13.11.1934

Beschreibung
Autor Dr. Ernst Karl Winter
Art des Dokuments BriefBerichtTelegrammArchivsnotizProvvistaPro MemoriaÜbersetzung
Ausführung maschinenschriftlichhandschriftlichgesetzt
Status des Dokuments ReinschriftKonzeptAbschrift
Kommunikationsweg
von: Ernst Karl Winter - 13.11.1934
an: Pius XI. - Vatikanstadt
Quelle AA.EE.SS., Periodo IV, Austria Ungheria, Pos. 881, Fasc. 42, Fol. 104r - 107r

Zitiervorschlag

Ernst Karl Winter an Pius XI, 13.11.1934; AA.EE.SS., Periodo IV, Austria Ungheria, Pos. 881, Fasc. 42, Fol. 104r - 107r in: Kritische Digitale Edition der Nuntiaturberichte Pius XI. und Österreich. Herausgegeben vom Österreichischen Historischen Institut in Rom, bearbeitet von Bernhard Kronegger. Zugriff:

Regest

Dr. Ernst Karl Winter, Dritter Vizebürgermeister Wiens, berichtet in einem Schreiben an den Papst über seine politische und religiöse Mission in Österreich. Nach der Februarkämpfen 1934 wurde er von Bundeskanzler Dollfuß beauftragt, die Annäherung der ehemaligen sozialdemokratischen Arbeiterschaft an das neue Regime zu fördern. Er beschreibt die geistige und religiöse Orientierungslosigkeit dieser Schicht nach dem politischen Umbruch und betont die Schwierigkeit, sie kurzfristig für den autoritären Staat zu gewinnen. Seine „Aktion Winter“ verfolgt daher das Ziel, durch eine Eliteorganisation die geistigen Führungskräfte der Arbeiterschaft für den neuen Staat zu gewinnen.

Er reflektiert die historische Entwicklung der antikirchlichen Haltung der Arbeiterschaft, die er auf die enge Verbindung zwischen Kirche und Christlichsozialer Partei zurückführt. Er bezeichnet es als Fehler, die Kompromissbereitschaft der Sozialdemokratie im Jahr 1933 nicht zu nutzen. Nach der gewaltsamen Niederschlagung des sozialdemokratischen Widerstandes im Februar 1934 sei es nun umso schwieriger, das Vertrauen der Arbeiterschaft zurückzugewinnen.

Winter hebt hervor, dass seine Arbeit von der obersten Staatsführung gedeckt sei, er jedoch sowohl von sozialdemokratischen Kreisen als auch von Teilen des konservativen Lagers Kritik erfahre. Er schildert seine enge Zusammenarbeit mit katholischen Geistlichen in der Arbeiterseelsorge und die Errichtung kleiner Seelsorgestationen in Arbeitervierteln als Teil der politischen Strategie zur Integration der Arbeiterschaft.

Dollfuß Schuschnigg Bürgerkrieg Christlichsoziale Partei Seelsorge Katholische Aktion Soziale Frage Februarkämpfe 


Text

— Folio 104 recto 📄 —

Heiliger Vater!

Einige wenige Tage in der ewigen Stadt komme ich mit grosser Freude der Aufforderung nach, Eurer Heiligkeit, einen Bericht zu geben über die religiöse Seite der politischen Aufgabe, die ich vor mehr als einem halben Jahr in Oesterreich übernommen habe.

Ich wurde von dem verstorbenen Bundeskanzler Dr. Dollfuss, mit dem ich durch zwanzig Jahre persönlich befreundet war, unmittelbar nach der Februarkatastrophe in Oesterreich dazu berufen, eine politische Aktion zur Verständigung der früheren sozialdemokratischen Arbeiterschaft mit dem neuen Regime in die Wege zu leiten. Der neue Bundeskanzler Dr. Schuschnigg hat diese Berufung bestätigt. Zum Ausdrucke dieser Berufung wurde ich zum dritten Vizebürgermeister der Stadt Wien ernannt. Die politische Aktion zur Verständigung von Staat und Arbeiterschaft, die ich leite, wird heute im Inland und Ausland gewöhnlich als „Aktion Winter“ bezeichnet.

Dass gerade ich zu dieser politischen Aufgabe berufen wurde, der ich bisher kein Politiker war, sondern ausschliesslich wissenschaftlich gearbeitet hatte, liegt darin begründet, dass ich in den Verfassungskämpfen des Jahres 1933, obwohl immer ein konservativer Schriftsteller, öffentlich und im Gegensatz zu der Auffassung meines Freundes Dollfuss die Rechtsauffassung der Sozialdemokratie vertreten habe, nach der die Handlungsweisen der österreichischen Regierung ein Verfassungsbruch war. Dadurch gewann ich sehr viele Beziehungen zu den Sozialdemokraten und ein grosses Vertrauen in der Arbeiterschaft, um dessentwillen mich Dollfuss zu der erwähnten Aufgabe berief.

Die geistige und religiöse Lage der österreichischen Arbeiterschaft ist seit dem Heldenkampfe, den ein Teil der Sozialdemokraten im Februar führte und seit der Niederwerfung dieses Aufstandes durch die Staatsmacht,104

— Folio 105 recto 📄 —
vielfach eine trostlose. Die Menschen haben ihre Partei und ihre Organisation, die für sie eine Art Religionsersatz war, über Nacht verloren und sind in gewissem Sinne führerlos und auch schutzlos. Die Verbitterung ist grenzenlos, weil sie durch das Gefühl elittettenenerlittenen Unrechtes getragen wird. In dieser geistigen Lage ist es aussichtslos, die ehemals sozialdemokratischen Massen über Nacht für den neuen Staat gewinnen zu wollen. Wir beschränken uns daher darauf, die geistig regsamen Kräfte in der österreichischen Arbeiterschaft zu beeinflussen und in einer Eliteorganisation zu sammeln. Nur langsam können die geschlagenen Wunden wieder ausheilen.

Die religiöse Lage insbesondere ist in der österreichischen Arbeiterschaft durch folgende geschichtliche Entwicklung bestimmt. Es gibt im österreichischen Volke keinen eigentlich antireligiösen Affekt. Die katholische Substanz ist auch in den Zeiten des Liberalismus erhalten geblieben. Die langjährige Verquickung von katholischer Kirche und christlichsozialer Partei in Oesterreich, bewirkt durch einzelne Personalunionen, hat jedoch die politischen Gegner des christlichsozialen Lagers vielfach in die antikirchliche Haltung hineingedrängt, was die jüdische Führung der Sozialdemokratie naturgemäss zu ihren Gunsten ausgenützt hat. Nach meinen Erfahrungen war die Bereitschaft sowohl der Arbeitermassen als auch ihrer Führer, sich einer katholischen Staatsführung unterzuordnen und in der religiösen Frage zu lernen und sich umzustellen, am grössten im Jahre 1933 während der Verfassungskämpfe, als die Sozialdemokratie den fast sicheren Untergang vor Augen zu jedem Kompromiss bereit war. Es war ein historischer Fehler, dass die Staatsführung damals diese Verständigung nicht wollte, wie ich und meine Freunde sie öffentlich vorschlugen.

Dadurch, dass die österreichische Staatsführung ihren Willen feierlich proklamierte, einen „christlichen Staat im Sinne der Quadragesimo anno“ aufbauen zu wollen, gleichzeitig aber die Februarkatastrophe eintrat, die viele Härten und Ungerechtigkeiten gegen Unschuldige zur Folge hatte u. noch immer hat, werden alle Mängel des gegenwärtigen Regimes nicht etwa bloss den konkreten Menschen, die es bilden, in die Schuhe geschoben, sondern von der Arbeitermasse als Ausdruck christlichen Geistes empfunden.

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— Folio 106 recto 📄 —

In klarer Erkenntnis der ungeheureren Schwierigkeit dieser Lage gerade von Standpunkt des Christentums und ohne selbst an der Herbeiführung dieser Lage beteiligt gewesen zu sein, habe ich mich dennoch bedingungslos dem Aufbauwerk der österreichischen Regierung zur Verfügung gestellt, weil in dieser nicht nur für Oesterreich, sondern für den christlichen Namen selbst ungemein prekären Situation niemand, der Christ und Oesterreicher ist, sich von der Mitverantwortung ausschliessen darf. Ich habe die Aufgabe übernommen, dem neuen Oesterreich die sozialdemokratische Arbeiterschaft zuzuführen und ich werde dieser Aufgabe, gedeckt durch das Vertrauen der obersten Staatsführung, nachkommen, unbekümmert um die Kritik, die mir gelegentlich nicht nur aus dem Lager der sozialdemokratischen Illegalen, sondern auch teils aus Heimwehrkreisen, teils aus dem früher christlichsozialen Kreisen entgegentritt. Eine Aufgabe wie die von mir übernommene ist ohne eine neue politische Methode, die naturgemäss da und dort Widerspruch und Missverständnisse erweckt, eben nicht durchführbar.

Bei der Durchführung meiner politischen Aufgabe halte ich in Wien vor allem den engsten Kontakt mit denjenigen Priestern, die sich die Organisation der Arbeiterseelsorge zur Aufgabe gemacht haben: dem akademischen Seelsorger Dr. Karl Rudolf, einem persönlichen langjährigen Freunde von Seipel und Dollfuss, dem Jesuitenpater Georg Bichelmaier und dem in der Seelsorge unter den Sozialdemokraten erfahrenen Prof. Michael Pfliegler. Auch die Arbeiterseelsorge befolgt das Prinzip der Elitebildung und in der Bildung von kleinen Kreisen. In den Arbeitervierteln und vor allem in den grossen Gemeindehauskomplexen entstehen jetzt überall kleine Seelsorgestationen, um die sich kleine Kreise von Arbeitern sammeln. Zwischen diesen Kreisen und unseren politischen Gruppen stellen sich allmählich Beziehungen her, die für beide Teile wertvoll sind.

Wie die Dinge heute in Oesterreich liegen, ist die „Aktion Winter“, die nicht aus Unbescheidenheit, sondern infolge der Schöpfung und Leitung durch mich diesen Namen hat, nicht nur die einzige bis an die halten marxistischen Kernschichten der österreichischen Arbeiterschaft vordringende

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— Folio 107 recto 📄 —

politische Phanlanx, die die Sozialdemokraten zum Staate führen kann, sondern darüber hinaus eines der hauptsächlichsten Mittel, durch die auch auf religiösem Gebiete die österreichische Arbeiterschaft allmählich aufgelockert und neuen Ideen zu geführt werden kann. Wir suchen zwar in unserer politischen Aktion die religiösen Probleme nicht, weichen ihnen freilich auch nicht aus, wohl aber schaffen wir die politischen und sozialen Voraussetzungen für ein besseres Verständnis auch der religiösen Gedankenwelt auf Seite der Arbeiterschaft.

Freilich kann diese ganze Arbeit im politischen und im seelsorgerlichen Bereiche nicht gelingen, wenn nicht Gott, wirksam auch in den historischen Ereignissen, der österreichischen Staatsführung wahrhaft die Gnade gibt, den christlichen Staat, den sie versprochen hat und der den Volksmassen ein wenigstens bescheidenes Stücklein Brot bieten soll, wirklich aufzubauen. Dazu bedarf das christliche Oesterreich der katholischen Solidarität alle anderen Völker des katholischen Erdkreises in Gebietsgedenken vor Gott. Insbesondere bedarf hiezu ▯▯ Oesterreich auch des Segens des väterlichen Hauptes der katholischen Oikumene.

Als ein Stück in denden weltlichen|Aufgabenbereich vorgebauetes Stück der katholischen Aktion Oesterreichs erbitte auch ich, Heiliger Vater, für am Tage des Heiligen Stanislaus Kostka für mich und meine achtköpfige Familie ebenso wie für meine politische Aktion, in der eine neue Arbeiterbewegung Oesterreichs ihren Anfang nimmt, den heiligen Segen des Stellvertreters Christi auf Erden und Heiligen Vaters der Christenheit.

Dr. Ernst Karl Winter

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